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Kinderchirurgen prognostizieren Pleitewelle bei Frühchen-Zentren

Berlin. Unter der Ökonomisierung der Medizin leiden Kinderkliniken besonders. Einer Umfrage zufolge mussten rund 40 Prozent ihre Betreuungskapazitäten in 2015 wegen Personalmangels reduzieren. Jetzt schreibt die neue Qualitäts-Richtlinie des G-BA eine hohe Fachkraftquote für die Frühgeborenen-Versorgung vor. „Angesichts der derzeitigen Finanzierungslage ist die Umsetzung einer solchen Vorgabe vollkommen unrealistisch“, erklärte Professor Dr. med. Bernd Tillig, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie e. V. (DGKCH). Er prognostizierte in der Folge eine ungeordnete Pleitewelle und appellierte an den Staat, diesen Konzentrationsprozess planvoll zu gestalten. „Für ein solches Strukturprojekt bieten wir der Politik unsere Expertise an“, erklärte Tillig auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie e. V. (DGCH).


Einrichtungen der Kindermedizin sind seit Jahren vom ökonomischen Druck in besonderer Weise betroffen – Grund ist die vergleichsweise schlechte Abbildung der erbrachten Leistungen im Krankenhaus-Finanzierungssystem DRG. „Zwar erhalten kindermedizinische Einrichtungen teilweise Zuschläge“, erläuterte Tillig, Direktor der Klinik für Kinderchirurgie am Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin. Aber sie reichten nicht aus, um die Zusatzkosten zu decken.
Um die Deckungslücken zu schließen, sparen Klinikleitungen ganz überwiegend am Personal. Eine bundesweite Umfrage des Verbandes Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen (VLKKD) ergab, dass in 2015 rund 40 Prozent der Kinderkliniken ihre Bettenkapazität reduzieren mussten – zu 95 Prozent wegen Personalmangels, insbesondere in der Pflege. Aber die Einsparungen treffen auch den ärztlichen Bereich. „Kinderchirurgen können aufgrund zu geringer Personalkapazität häufig keine 24-Stunden-Dienste mehr vorhalten“, berichtete Tillig. Frisch operierte und verletzte Kinder würden dann von anderen Kinderärzten mit betreut, der Kinderchirurg nur noch bei Bedarf in die Klinik gerufen. Auch Rettungsstellen hielten oft keine Kinderchirurgen mehr vor, so dass die jungen Patienten von Ärzten anderer Fachrichtungen behandelt werden müssten. „Die Mehrzahl der Kinderkliniken und kinderchirurgischen Einrichtungen arbeitet bereits defizitär“, so der DGKCH-Präsident.
Mit der Qualitätssicherungs-Richtlinie zur Frühgeborenen-Versorgung, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) auf den Weg gebracht wurde und im Januar 2017 verbindlich in Kraft treten soll, verschärfe sich die Situation erheblich. Das neue Gesetz schreibe eine hohe Fachkraftquote für die neonatologische Intensivpflege sowie einen strikten Personalschlüssel für die Frühgeborenen-Versorgung vor – ohne ausreichende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts kann derzeit nur gut ein Viertel der Perinatalzentren diese Anforderungen erfüllen.
Um die Personalvorgaben der Richtlinie vollumfänglich umsetzen zu können, ist bundesweit von einem personellen und finanziellen Mehrbedarf von bis zu 1750 Vollkräften – das entspricht einem Plus von 28 Prozent gegenüber dem derzeitigen Stand – beziehungsweise von mehr als 100 Millionen Euro auszugehen. „Diese Anforderungen sind nicht zu schaffen. Es werden in der Konsequenz Perinatalzentren untergehen“, prognostizierte Tillig. „Eine solche Marktbereinigung wird offenbar in einigen medizinischen Bereichen politisch bewusst in Kauf genommen, um Überkapazitäten abzubauen.“
Tillig: Ein Konzentrationsprozess sollte in der Medizin nicht den Gesetzen der Marktwirtschaft und Zufällen überlassen bleiben, sondern anhand von klar definierten Kriterien strukturiert erfolgen – ähnlich wie es in der Transplantationsmedizin der Fall war. „Der Rückbau von Kapazitäten gehört in die Hände des Staates, er muss im Bereich der Gesundheit seiner Fürsorgepflicht gerecht werden“, betont der Kinderchirurg.





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